Er ist in der Schweiz geboren, hat aber nie dort gelebt. Nach vielen Jahren in Kriegs- und Krisengebieten kehrt der Fotograf Dominic Nahr in sein Geburtsland zurück und betrachtet es mit den Augen des fremden Inländers. Ein überraschender Blick auf die neue alte Heimat – aus der Innen- und Aussenperspektive zugleich.

Dieser Artikel ist als Original im Leica Courrier 101 erschienen. In diesem Blog Post gibt es zusätzliche Fotos.

 

 

Das Sperrgebiet in Fukushima, ein Flüchtlingslager im Irak, Kriegsgebiete im Südsudan, in Mali und Somalia. Und jetzt die Schweiz. Die Heimatfront. Dominic Nahr fotografiert jetzt dort, wo andere Urlaub machen. Im Sommer 2017 hat er begonnen, sich intensiv mit der Schweiz auseinanderzusetzen. Ein Interview über Kindheitsbilder und Heimat, Europa und Afrika und die Vorzüge des Züricher Flughafens.

Sie sind in ihr Geburtsland, die Schweiz, zurückgekehrt. Warum dieser Umzug?

Ich bin eher zufällig in der Schweiz geboren, das war so nicht geplant. Direkt nach meiner Geburt sind wir dann zurück nach Hongkong gegangen, wo meine Eltern bis dato wohnten. Zuvor habe ich also nie länger in der Schweiz gelebt. Doch nach vielen Jahren des Umherziehens bin ich müde geworden, immer neue Plätze zu finden, die ich kurzzeitig « Heimat » nenne. Ich dachte, ich lasse einfach den Pass entscheiden, wo die Heimat ist.

Was hat sich dadurch verändert?

Ich habe jetzt zehn Jahre in Afrika gelebt und gemerkt, dass es an der Zeit ist, etwas zu verändern. Besonders kulturelle Veranstaltungen habe ich sehr vermisst – in Zürich bin ich zum Beispiel gerade auf einem Filmfest gewesen. Die Stadt ist für mich auch wegen des Flughafens ideal, ich bin gut angebunden. Beruflich kann ich nun beides abdecken: Afrika, wo ich mich gut auskenne, und Europa, wo ich lebe.

Und nun widmen Sie sich fotografisch der neuen Heimat?

Ja, meine Bilder zeigen einen Querschnitt durch die Schweiz – nur die Städte habe ich bewusst ausgelassen. Sie sind fast alle in diesem Jahr entstanden
und die Arbeit daran war eine tolle Möglichkeit, das Land kennenzulernen. Natürlich gibt es regionale Unterschiede, wie Sprache und Kultur, aber im Rückblick kann ich sagen:
Alle waren mehr als offen und engagiert, mir ihre Schweiz zu zeigen.

Haben Sie sich vorher Gedanken darüber gemacht, welches Bild der Schweiz Sie vermitteln möchten?

Meine Mutter hat mir viele Geschichten und Fabeln aus ihrer Heimat erzählt, ich bin mit diesem traditionellen Gedankengut aufgewachsen. Das ist genau das, was ich jetzt suche: Die Geschichten meiner Mutter in Bildern zu finden.

Sie haben zuvor hauptsächlich in Kriegs- und Krisengebieten gearbeitet. Hat sich Ihre Bildsprache durch den Themenwechsel verändert?

Vor meinem Umzug hätte ich gedacht, dass sich diese Veränderung auch in meiner Bildsprache wiederfindet. So ist es aber nicht, ich sehe keinen Unterschied zu Afrika oder Japan. Ein Bauer, den ich während meiner Arbeit in der Schweiz getroffen habe, hat zu mir gesagt, ich wäre mit Herzblut bei der Sache. Da ist es wahrscheinlich egal, welche Geschichte man fotografiert. Es ist also nicht schwerer, sich fremden Ländern zu nähern als der Heimat?  Es verändert sich nichts, solange man zu den Menschen, die man trifft, eine persönliche Beziehung aufbaut. Denke ich an viele meiner früheren Arbeiten zurück, fühle ich mich in der Schweiz plötzlich als Abenteurer. Ich kann allein unterwegs sein, ohne Übersetzer oder Autor und komme mit allen Menschen direkt ins Gespräch. Ich bin überrascht, wie offen alle auf mich reagieren. Als Fotograf hat man den grossen Vorteil, so viel reisen und kennenlernen zu können – eine tolle Gelegenheit, meine neue Heimat zu entdecken.

Haben Sie manchmal das Gefühl, an einem anderen Ort etwas zu verpassen, eine wichtige Geschichte nicht erzählen zu können?

Es gibt so viele gute junge Fotografen, die beeindruckende Bilder machen – diese Geschichten werden also trotzdem erzählt, da mache ich mir keine Sorgen. Auch in der Schweiz warten Geschichten darauf entdeckt zu werden. Viele Menschen müssen wirklich hart kämpfen, was auf den ersten Blick natürlich schwer vorstellbar ist, weil die Schweiz so schön ist. Aber das ist selbstverständlich nur das Bild, das den Touristen vermittelt werden soll. Vielen Bauern etwa fehlt das nötige Geld, damit ihre Betriebe in Zukunft weiter existieren können. Dass diese heile Welt nicht existiert, das ist mir erst jetzt bei meiner Arbeit in der Schweiz wirklich bewusst geworden.

Haben Sie vor, sich auch weiterhin fotografisch der Schweiz zu widmen?

Das habe ich fest vor, es gibt einige Winterevents, die ich nicht verpassen möchte, etwa traditionelle Maskenfeste. Doch ich werde auch nach Fukushima zurückkehren und die Folgen der Atomkatastrophe dokumentieren – eine Arbeit, die ich seit dem Beben 2011 verfolge. Gleichzeitig habe ich neue Energie gewonnen und suche nach neuen Orten, an denen ich arbeiten kann. Ich kenne Europa so gut wie gar nicht. Der Osten würde mich reizen, Moldawien etwa.

Sollten wir uns unserer direkten Umgebung bewusster werden?

Das ist ein Tipp, den ich den Studenten immer gebe, die meinen Kurs an der Fachhochschule Hannover besuchen: Versucht, so nah wie möglich in eurer Umgebung zu fotografieren. Und hier bin ich nun, in Europa, und ich kann meine neue Energie in meinen Bildern sehen. Man muss aufpassen, dass man in der kreativen Welt nicht abstumpft. Ob Zürich nur ein Zwischenstopp ist, das weiss ich derzeit noch nicht. Im Moment habe ich das Gefühl, dass ich dort am besten denken kann.

Mit welchem Equipment werden Sie diese Energie nutzen?

Ich war zuletzt mit der Leica M und der Leica Q unterwegs . Die Q kommt immer dann zum Einsatz, wenn es dunkel ist und der Autofokus hilfreich ist. Ich mache dann meine Bilder einfach aus der Hüfte, direkt vom Screen – für mich mit meiner Grösse perfekt. So möchte ich auch gerne in Zukunft unterwegs sein – wo genau, wird sich zeigen.

Interview : Katrin Iwanczuk